Le pouvoir d'un œil ouvert. Une motivation.

Text

Marcus Mex

Veröffentlicht

2.9.2024

Aktualisiert

6.3.2025

Vor einigen Jahren bin ich über eine Geschichte gestolpert, an die ich aktuell immer wieder denken muss. Sie stammt aus der Bibel, und das ist insofern bemerkenswert, als dass ich als Atheist normalerweise damit kaum in Berührung komme und dennoch davon sehr inspiriert bin.

Es ist die Geschichte von Emmaus, und sie ist schnell erzählt. Zwei Jünger sind kurz nach dem Tod Jesu Christi auf dem Weg nach Emmaus bei Jerusalem als sich ein Fremder zu ihnen gesellt. Auf seine Frage, warum sie denn so traurig seien, erzählen sie vom Übel, das Jesus widerfahren ist. Alle Versuche des Fremden, ihnen eine Erklärung dafür zu bieten, bleiben bei den beiden vor lauter Wehklagen ungehört. Als sie abends gemeinsam zu Tisch sitzen und der Fremde das Brot bricht, wird den beiden bewusst, dass dieser Fremde Jesus Christus selbst ist – und sie das die ganze Zeit vor lauter Lamentieren nicht erkannt haben.

Das Problem: Ein mangelndes europäisches Selbstverständnis

Genau so kommt mir die Debatte der letzten Tage in Europa vor: Wir lamentieren über das Ungerechte, das Unerwartete, das Schlimme, was Europa aktuell widerfährt. Wie die beiden Jünger in der Bibel sind wir so mit dem Bedauern – in unserem Fall Selbstmitleid – beschäftigt, dass wir das eigentlich Bedeutsame nicht sehen. Wieso schauen wir nicht auf das, was wir in der Hand haben, nämlich unser eigenes Verhalten? Wieso empören wir uns über etwas, dass wir sowieso nicht ändern können? An dessen Lage wir überdies auch eine große Verantwortung tragen, allem voran für unsere europäische Verteidigungsfähigkeit? Woraus bitte leiten wir das Recht, die Erwartung, den Anspruch, was auch immer, ab, dass irgendein anderes Land diese Verantwortung für uns übernimmt? Noch dazu quasi kostenlos?

Wo bitte ist hier unsere Eigenverantwortung? Wo ist unser Selbstverständnis als Europa? Niemand ist für uns verantwortlich außer wir selbst. Und Selbstmitleid ist kein erwachsendes Verhalten. Wenn wir uns nicht selbst klar definieren und entsprechend verhalten, wie können wir erwarten, dass andere uns überhaupt sehen und ernst nehmen?

Mir ist bewusst, dass es für einen Teil dieser bewusst pointiert formulierten Fragen Erklärungsmöglichkeiten gibt. Ich stelle sie trotzdem in dieser Form – nicht bösartig, sondern aus Liebe zu Europa! Damit wir den Dingen wirklich auf den Grund gehen können. Wehklagen hilft uns hier genauso wenig wie den Jüngern bei Emmaus – es hält uns nur davon ab, einen klaren Blick auf die Wirklichkeit zu haben. Wie hat Steve Jobs einmal über eine eigene unschöne Erfahrung gesagt: "Es war eine ganz bittere Pille, aber ich glaube, der Patient hat sie gebraucht". In unserem Falle ist diese bittere Pille das Eingeständnis, dass wir noch kein klares Selbstverständnis von uns haben – wir dieses aber benötigen, um global relevant zu sein. Und das müssen wir, wollen wir nicht unter die Räder kommen, samt unserem Wohlstand, unserer Freiheit und unserem Frieden.

Die Herausforderung des Individualismus

Auf dem Weg dorthin stehen wir leider vor einer weiteren Wehklage-Herausforderung: unserem Gesellschaftsverständnis mit dem Primat des Individualismus. Ja, es ist Teil unserer Freiheitsorientierung, und diese ist unumwunden eine zentrale Errungenschaft. Sie ist Mitgrund für unseren Wohlstand – und der wiederum für Frieden. Das macht dieses Primat so verführerisch und selbst-verstärkend.

Aber wie Volkswirte sagen: ‚There is no free lunch’ – es gibt immer einen Preis. Namentlich ist dies bei einer auf Individualismus ausgerichteten Gesellschaft eine Tendenz der Einzelnen zum Rückzug ins Private und Persönliche. Der damit einhergehende steigende Wohlstand hat uns zunächst auch recht gegeben. Und es wäre doch toll, wenn es weiter so wäre.

Nun hat uns dieser Individualismus im Laufe des Weges leider auch ein wenig abtrainiert, Gesellschaft als das zu denken und zu behandeln, was sie ist: ein Miteinander – mit all seinen Anstrengungen, Unbequemlichkeiten und der einhergehenden Verantwortung! Mit Hermann Hesse: „Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen“.

Auch hier macht sich ein weiteres Mal die Tendenz zum Wehklagen breit. Gerne ist alles schlecht – und wird ja sowieso auch andauernd noch schlechter. Ja, und schuld – das sind natürlich die anderen! Dass jeder Einzelne und jeder Einzelne von uns auch und vor allem Bürger ist – und damit Teil des Ganzen – übersehen die Lamentierenden gern. Und so machen wir es uns bequem in der Konsumhaltung gegenüber der gesellschaftspolitischen Verantwortung, die eigentlich unser aller ist. Und hierzu gehört auch der simple Fakt, dass wir uns ja selbst in der Politik engagieren und es besser machen könnten, wenn uns das nicht gefällt, was „die da“ machen. Meckern ist halt einfacher als sich selbst (mühselig) zu engagieren.

Vielleicht ist so all das Opfer-Gefühl und -Verhalten psychologisch erklärbar. Und gut möglich, dass dies alles aus der individuellen Sicht auch rational ist. Aber aus gesellschaftlicher Sicht ist es das leider nicht. Hier ist es schlicht irrational, weil kontraproduktiv. Denn als Gesellschaft sitzen wir alle in einem Boot. Und wenn das in Schieflage gerät oder gar kentert, betrifft uns das alle.

„Mein Haus, mein Auto, mein Boot“ (die Älteren unter uns in Deutschland erinnern sich) funktioniert allerspätestens ab jetzt nicht mehr. Wenn wir weiter in Frieden und Wohlstand leben wollen, müssen wir das spätestens jetzt begreifen. Sonst wars das für unsere Demokratie und Freiheit angesichts der aktuellen externen Bedrohungen. Das sage ich als jemand, der die ersten 17 Jahre seines Lebens in dem Teil Deutschlands groß geworden ist, in denen beides nicht existierte – und der das ganz bestimmt nicht noch einmal erleben möchte. Und ich bin ziemlich sicher: Die Allerwenigsten von Euch, die einmal in Freiheit gelebt haben.

„Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!“

Hermann Hesse

Ein europäischer Emmaus-Moment

Vielleicht aber, und das ist meine Hoffnung, ist dies jetzt unser europäischer Emmaus-Moment des Brot-Brechens: Der, an dem wir erkennen, dass genau in dem, was uns gerade widerfährt an neuer weltpolitischer Realität nicht das Unheil, sondern die Hoffnung und das Gute liegt! Eine Katharsis, wie unsere griechischen Freunde sagen würden: eine Reinigung und Säuberung, der Moment, die negativen Affekte umzukehren, die Seele zu entlasten und zu neuen Ufern aufzubrechen!

Konkret: Uns im Angesicht externer Bedrohungen als Europa zusammenzufinden und zusammenzustehen, das Gemeinsame zu entwickeln. Denn auch wir sitzen als europäische Gesellschaft in einem Boot. Kentern ist keine Option. Deswegen gilt ‚all hands on deck‘: Jetzt sind wir alle gefragt, jede und jeder nach ihren bzw. seinen Möglichkeiten.

Die gute Nachricht dabei: Die Menschen Europas beweisen seit Jahrhunderten immer und immer wieder, dass sie veraltete Zustände und deren Risiken erkennen, überwinden und in eine neue Dynamik überführen können. Kein Kontinent hat darin so viel Erfahrung und Expertise wie wir. Vertrauen wir dem, vertrauen wir uns, in dem wir nicht wehklagen, sondern uns der neuen Herausforderung öffnen!

Das Tolle dabei: Das positive Gefühl, was sich aus solch einem Miteinander und der Bewältigung dieser Herausforderung entwickeln wird, wird uns ein europäisches Selbstbewusstsein und eine Selbstwirksamkeit verschaffen, die uns viel weiter tragen wird als wir uns das jetzt vorstellen können! Auf gehts!

P.S. Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne

1941 schrieb Hermann Hesse sein berühmtes Gedicht als Mutmacher in Zeiten des Zweiten Weltkrieges. Möge uns dies Inspiration sein für uns und die nächste Stufe Europas:

Wie jede Blüte welkt und jede Jugend

Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,

Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend

Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.

Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe

Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,

Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern

in andre, neue Bindungen zu geben.

Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,

Der uns beschützt und der uns hilft zu leben.

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,

An keinem wie an einer Heimat hängen,

Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,

Er will uns Stuf' um Stufe heben, weiten.

Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise

Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,

Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,

Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde

Uns neuen Räumen jung entgegensenden,

Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden …

Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!