56.000.000 qm Schönheit - die Seiser Alm in Südtirol

Südtirol – welch eine wunderbare Gegend in den südlichen Ausläufern der Alpen! Die nördlichste Provinz Italiens besticht in unglaublicher Form mit ihrer Kultur und ihrer Landschaft. Die verschiedenen Bergzüge und Felsketten, vor allem der Dolomiten, formen eine Vielzahl von ganz unterschiedlichen Tälern – von ganz kleinen, engen bis hin zu zehn Kilometer breiten, die schon fast an Flachlandschaften erinnern. Eines der bekanntesten Täler ist das Eisacktal – jenes, in dem die Brennerautobahn von München und Innsbruck kommend in den Süden führt. Das Tal zum Land der Sonne quasi. Von der Brenner-Autobahn aus gänzlich unsichtbar, liegt östlich des Eisacktals eine der faszinierendsten Landschaften Europas: die Seiser Alm, die größte Hochalm Europas.
Ich nutze einen schönen Junitag, dieses Juwel zu erkunden. Früh aufstehen ist Pflicht. Erstens, weil die Seiser Alm groß ist und es viel zu erkunden gibt. Und zweitens, weil die Zufahrtsstraße über Kastelruth von 09:00 bis 17:00 Uhr für den Autoverkehr gesperrt ist. Und sogar früher, wenn der zentrale Parkplatz oben auf der Alm voll besetzt ist. Und das ist mindestens im Sommer gern früher als 09:00 Uhr der Fall. Wer zuerst kommt, malt zuerst, wir kennen das. Ich starte aus dem Sarntal, dem Tal westlich des Eisacktals. Schon der Weg wird zu einem ersten Höhepunkt: Er führt mich über den Ritten, ein Teil des Bergkamms, der das Sarntal und das Eisacktal voneinander trennen.
Allein die Strecke besticht schon, weil sie einem vom Ritten aus einen fantastischen Rundumblick bietet: Im Süden auf die Regionalhauptstadt Bozen, im Norden der Alpenhauptkamm, der dort majestätisch und friedlich liegt – und im Westen eben die Seiser Alm. Ein Blick aus der Ferne als einem erstem Appetithappen quasi.
Durch den Regen der letzten Tage bietet sich mir ein besonderes Schauspiel: Während die Felsketten der Seiser Alm bereits in der Morgensonne liegen, hüllt sich das Eisacktal unterhalb noch in Wolken aus Morgennebel. Was für eine Szenerie!
So geht es vom Ritten hinunter über kleine – nein: kleinste – Straßen, eng, verwinkelt, auf denen man zu diesen frühen Morgenstunden immer wieder Bergbauern in ihren alten Fiat 500 und Fiat Pandas begegnet, die ihre frische Milch zu den Sammelstellen bringen. Ganz entsprechend der romantischen Vorstellungen, die vermutlich viele von uns von Italien haben.
Und auf der anderen Seite des Tals geht es dann wieder hinauf, erst nach Kastelruth und von dort weiter über die Serpentinen hoch nach Kompatsch auf der Seiser Alm.
Am Parkplatz angekommen gibts erst einmal einen guten Cappucino (logisch einen 'guten', wir sind ja schließlich in Italien!) und ein herzhaftes Ciabatta. Der Tag wird lang, die Seiser Alm ist groß und der Plan ist, sie mit dem Mountainbike zu erschließen. So ist eine gute Stärkung angeraten. Und die gibt es in der Morgensonne, die sich jetzt im Juni kurz vor 09:00 Uhr über den Berggipfeln erhebt. Kann ein Tag schöner beginnen?
Dann geht es los. Die ersten Kilometer von Kompatsch aus sind geprägt von dem Blick über eine riesige Ebene – nur eben nicht im Flachen sondern auf 1.900 Metern über dem Meerespiegel! Die Bergwiesen scheinen um einen herum zu fließen, in sanften Wellen, hin und wieder betupft von kleinen, dunkelbraunen Holzhütten, deren Holz von Sonne und Regen über lange Zeit gegerbt sind. Dies alles eingerahmt von steilen Felswänden am Horizont, die das ganze Schauspiel zu einer übergroßen Arena zu machen scheinen, in der die Schönheit der Natur die Hauptrolle spielt. Und über all dem die Sommersonne, die hier in der Höhe auf ihre unbarmherzige Hitze verzichtet, die sie unten im Tal verbreitet – wow, wow, wow!
Tja, und so geht es die nächsten Stunden nahezu andauernd weiter: Mit jeden paar hundert Metern, die man sich tiefer in die Seiser Alm hineinbegibt, eröffnen sich neue Blicke: Mal ist es ein kleiner Bergbach, der die Wiesen durchschneidet, mal ein tiefdunkles Waldstück, dass es zu durchwandern oder auch zu durchfahren gibt. Und fast immer bietet sich dabei ein Blick auf einen der zahlreichen Felsen – auf den Langkofel, den Spitzkofel, den Schlern, die Roterdspitze und wie sie alle heißen.
All diese Felsen bzw. Felsgruppen bilden nach Norden, Süden und Osten quasi einen Dreiviertel-Kreis um dieses Hochplateau, welches eine Fläche von 56.000.000 qm umfasst. Richtung Westen fällt es Richtung Eisacktal ab – weshalb man es vom Ritten gegenüber eben auch schon sehen kann. Dabei bewegt sich dieses Plateau zwischen 1.650 bis 2.350 Meter über dem Meeresspiegel.
Diese Hochwiesen, Almen genannt, dienen traditionell den Bauern, im Sommer ihr Vieh dort weiden zu lassen und die Jungen aufzuziehen. Maßgeblich Kühe und Ochsen, aber auch Pferde, Schafe und Ziegen. Der Wert dieser Almen liegt in ihrer Unberührtheit. Dadurch, dass sie nahezu unbeeinträchtigt vom Menschen sind, konnte und kann sich die Natur hier frei entwickeln. Dies führt unter anderem zu einer hohen Artenvielfalt: Allein auf der Seiser Alm hat man fast 800 verschiedene Pflanzenarten gezählt! Die geografische Lage südlich der Alpen trägt sicher ihr Übriges hierzu bei, schließlich kann die Seiser Alm mit im Schnitt 300 Sonnentagen pro Jahr aufwarten.
Diese Bedingungen sowie die Vielfalt und Unberührtheit führt bei dem Gras (und im Herbst dem Heu) zu einem ganz anderen Maß an Dichte von Nährstoffen und Aromen. Dies hat wiederum einen direkten Einfluss auf die Gesundheit der Tiere sowie die Qualität der Milch und des Fleisches. Ja, und dies wirkt sich wiederum – logischerweise – unmittelbar auf die entsprechenden Produkte aus. So ist allein der Geschmack eines Käses aus solcher Milch ein derart viel intensiverer, vollmundigerer, dass man danach Käse aus industrieller Produktion kaum noch als schmackhaft bezeichnen kann. Jedenfalls geht mir das so.
Insofern bietet die Seiser Alm als der größten Hochwiese, nicht nur Südtirols, sondern ganz Europas, schon einmal einen unermeßlichen Schatz in Bezug auf die Qualität der Produkte, die sie hervorbringt. Und das seit mindestens 500 Jahren, jedenfalls finden sich Belege für die Bewirtschaftung der Seiser Alm aus dieser Zeit.
Im Übrigen findet sich neben den Produkten eine weitere Qualität: die der Kultur und des Zusammenlebens. Die Ausgeglichenheit und Freundlichkeit, die einem hier überall begegnet, kann man, wie ich finde, direkt als Wellness für die Seele beschreiben. Definitiv ein weiteres Qualitätsmerkmal dieser Region Europas!
Auf meinem Weg hoch zur Williamshütte in der Nähe des Langkofels traue ich auf einmal meinen Augen kaum: Auf mehr als 2.000 Meter Höhe, inmitten einer Ansammlung von einigen Holzhäusern, eröffnet sich auf einmal der Blick auf ein Gebäude, das aus der üblichen traditionellen Anmutung deutlich hervorsticht. Mit klaren Linien und aus modernen Materialien gebaut, schmiegt es sich in den Berg. Und wirkt hierbei in keiner Weise störend, im Gegenteil: Es bildet in seiner fast futuristischen Form und in der Einbettung in die Landschaft eine richtige Harmonie von Natur und Architektur – und vor allem von Tradition und Moderne! Und dies umso mehr in der direkten Nachbarschaft der ältesten Kirche der Seiser Alm. Absolut spannend, wie Vergangenheit und Zukunft so im Einklang sein können!
Ich werde neugierig und gehe in den direkt daneben liegenden Gasthof – der Zallinger. Seit mindestens 1850 existiert er hier oben, am Anfang als Bergbauernhof, später dann als Hotel erst für Wanderer, dann irgendwann für Skifahrer und mittlerweile auch für Radfahrer.
Was dieses futuristische Gebäude vorm Haus sei, frage ich. Und erfahre, dass dies ein Teil des Wellness-Bereiches ist. Man habe vor einigen Jahren das Hotel modernisieren und erweitern wollen – und sei hierfür mit noa.network, einem Architekturbüro aus Bozen, in Kontakt gekommen. In den ersten Gesprächen zur grundsätzlichen Konzeption des Umbaus und der Erweiterung (hier insbesondere des Wellness-Bereiches) haben noa.network einen spannenden Ansatz vorgeschlagen: Keine einfach nostalgische Wiederholung des traditionellen Baustils der Seiser Alm, stattdessen eine modern-zukunftsgerichtete Weiterentwicklung dieser Tradition. Die Historie des Ortes und seine einzelnen Elemente, wie zum Beispiel den Gebäuden, dienen als Ideengrundlage, hieraus die Zukunft des Ortes zu entwickeln. So basiert die Idee der einzelnen Bungalows (anstatt zum Beispiel eines Gesamtgebäudes) auf der Art und Weise der Gebäude der früheren "Bewohner" dort: den Stallungen für die Rinder. Die Gebäude dienen nunmehr den jetzigen Bewohnern, den Hotelgästen. Ja, und dieses moderne Gebäude, welches meine Aufmerksamkeit erregt hat, ist die Sauna mit riesengroßen Fenstern, die den Blick auf die grandiose Landschaft freigeben: auf den Langkofel auf der einen, und die große Weite der Seiser Alm auf der anderen Seite. Und dies, ohne dabei optisch in die Landschaft in irgendeiner störenden Form einzugreifen, sondern sich vielmehr in diese sanft einfügen.
Wow, denke ich, was für ein faszinierender Ansatz, Tradition und Zukunft derart nahtlos miteinander in Einklang zu bringen – und dabei gleichzeitig die Bedürfnisse von Mensch und Natur zu berücksichtigen! Ich finde, dies kann direkt als Musterbeispiel dienen für eine gelungene Zukunftsgestaltung einer regionalen Tradition – von der wir ja reich sind in unserem Europa! Unbedingt muss ich hierzu mehr erfahren, zu den Menschen bei und hinter noa.network, zu ihrem Ansatz, ihrem Verständnis. Denn garantiert kann Europa hiervon viel lernen! Aber erst einmal gehts wieder aufs Rad und weiter und tiefer hinein in diese unglaubliche Landschaft ...
Was für ein spannender Ansatz, Tradition und Zukunft quasi nahtlos in Einklang zu bringen!
Ja, was gibt es sonst noch über die Seiser Alm zu erzählen?
Zuallererst einmal, dass es unmöglich scheint, diese Landschaft mit ihrer Atmosphäre in Fotografie und mit Worten so einzufangen, dass es ihr gerecht wird. Die Weite, die Abgeschiedenheit (gleichwohl mitten in Südtirol) und die Abwechslung von weiten Almenwiesen auf der einen Seite und hohen Felsen auf der anderen machen diese Seiser Alm zu etwas ganz Besonderem, deren Faszination man sich meiner Ansicht nach nicht entziehen kann.
So sitze ich nach einer sehr ausgedehnten Runde bis in den hinteren Bereich der Seiser Alm zum (etwas verspäteten) Mittagessen in der Loranzer Schweige. Was könnte es hier nun Besseres geben als selbstgemachte Semmelknödel mit Gulasch vom heimischen Vieh. Ein nach einer solchen Aktivität ehrlich verdientes Essen, gemacht von bodenständigen, wunderbar freundlichen und ehrlichen Menschen. Dazu der Blick über die schier endlose Weite dieser paradiesischen Landschaft aus Farben sowie dem Duft und Aroma der sommerlichen Almwiesen mit ihrer fast unendlich scheinenden Vielfalt an Gräsern, Blumen und Kräutern: Brennnessel, Melisse, Ringelblume, Schafgabe, Tausendguldenkraut, Buchweizenblüten – um nur einige der knapp 800 Pflanzenarten zu nennen. Und alles zusammen hier oben im besten Einklang von Mensch, Tier und Natur. Ja, auch dies ist eine Qualität Europas, wie ich finde: Dass so etwas geschützt und gepflegt wird!
Und wie ich mich diesem Genuss in seinen verschiedenen sensorischen Dimensionen hingebe, frage ich mich, ob es nicht irgendeine Möglichkeit gibt, dies doch irgendwie erlebbar zu machen, wenn Bild und Text allein dies nicht vermögen. Da erinnere ich mich des Barkeepers im Zallinger. Hatte der nicht davon gesprochen, dass es in Kastelruth jemanden gibt, der genau aus diesen Kräutern der Seiser Alm Gin und andere Getränke herstellt? Und man so auch den Duft und den Geschmack dieses Paradieses erleben kann, ohne hierher zu kommen?
Na dann, auf und zurück über die wunderbaren Weiten der Seiser Alm Richtung Kastelruth!
P.S. Und ganz bestimmt komme ich zurück, zum Beispiel im Herbst, wenn diese jetzt grünen Sommerwiesen und ihre Laubbäume sich in ein gelb-rot glühendes Farbenmeer gewandelt haben und die Natur ihre Früchte des Sommers preisgibt. Oder im Winter, wenn diese faszinierende Hochebene ihr grünes Wellenmeer zu einem weißen gemacht hat – und inmitten dessen die Felsen erhoben in der Wintersonne strahlen – ich kann es kaum erwarten!
Was wir für Europa mitnehmen
Europa, schau nur, wie wunderbar es möglich ist, trotz einer langen Tradition offen für die Zukunft zu bleiben – und sie sogar aus der eigenen Vergangenheit konstruktiv ins Morgen zu tragen! Und dies ganz einfach im Einklang von Mensch und Natur – wohlan denn: Lernen wir alle von der Seiser Alm!