Wie Vielfalt Europa groß machte - und was uns dies lehrt

Europa ist, da dürfte weitestgehend Einigkeit herrschen, von einer unglaublichen Vielfalt geprägt: kulturell, sozial, ökonomisch. Dies gilt sowieso auf nationaler Ebene, viel mehr jedoch noch in Bezug auf die Regionen. So hat nahezu jede einzelne Region in Europa ihre jeweils eigene, lange Geschichte, von der sie jeweils geprägt ist. Und mit ihr die Menschen, deren Umgang miteinander sowie dabei ihre jeweilige Kultur, ihre Sprache bzw. ihr Dialekt, ihre Architektur und vieles mehr.
Insgesamt ist so in Europa eine Vielfalt entstanden, die nahezu unüberschaubar ist. Deswegen gilt sie vielen als Nachteil in einer globalisierten Welt, in der Menschen nach Einfachheit und Orientierung suchen. Das ist nur zu verständlich. So ist es ohne Frage notwendig, dass Europa eine gemeinsame Identität entwickelt.
Hierbei sollten wir jedoch nicht übersehen, dass dieser Kontinent einer der stärksten und erfolgreichsten der Welt ist – und unsere Vielfalt hierzu einen erheblichen Beitrag geleistet hat. Was sind also die Vorteile von Vielfalt, wie sind sie entstanden – und was lehrt uns dies?
Erinnern wir uns an unseren Geschichtsunterricht. Da erfuhren wir etwas über Zwei- und Dreifelderwirtschaft, die vor zirka 1.000 Jahren Einzug hielen. Warum hatte man diese damals eingeführt? Ganz einfach: Weil man gelernt hatte, dass die Bepflanzung mit der immer selben Pflanze (sogenannte Monokulturen) auf Dauer keine wahnsinnig gute Idee ist. Zwar hatte dies zunächst weniger Arbeit gemacht. Die immer gleiche Pflanzenart laugte jedoch schnell die Böden aus, und die Pflanzen trugen immer weniger Früchte. Dazu kam die Erkenntnis, dass bei zu viel Monokultur im Anbau ein Schädlingsbefall gern einmal gleich die gesamte Ernte zerstört. Mit entsprechend verheerenden Folgen für die eigene Versorgung. Unsere irischen Freunde haben mit der Kartoffelfäule Mitte des 19. Jahrhunderts mehr als zehn Prozent der eigenen Bevölkerung an den Hungertod verloren, weil die Landwirtschaft einseitig auf Kartoffeln ausgerichtet war. Bis heute ist dies ein nachhaltig wirkendes Trauma auf der grünen Insel.
Oder nehmen wir ein aktuelles Beispiel: Thüringen. Beziehungsweise genauer gesagt der Süd-Harz dort und dessen Borkenkäfer-Befall des Waldes. Mittlerweile sind zirka 90% der Waldfläche zerstört. Warum? Weil dort eine Monokultur in Form von Fichten besteht. Also besser formuliert: bestand. Waldflächen hingegen, die wie in anderen Teilen des Harzes als Mischwälder ausgebaut sind (mit anderen Worten: mit Vielfalt), haben dieses Problem nicht.
Ein drittes Beispiel, diesmal aus der Betriebswirtschaft. Hier gibt es einen Forschungszweig, der sich, vereinfacht formuliert, mit der Frage beschäftigt, wie Unternehmen in nicht mehr veränderbare Abhängigkeiten geraten – die sogenannte Pfadabhängigkeit. Einer der führenden Forscher auf diesem Gebiet war Prof. Georg Schreyoegg von der Freie Universität Berlin. Er hat mit seiner Forschung zeigen können, dass Vielfalt dazu beitragen kann, diese Pfadabhängigkeit zu durchbrechen. Wieso ist das so? Weil Vielfalt zu unterschiedlichen Perspektiven führt – und diese helfen können, alte Denkmuster infrage zu stellen und neue Ideen einzubringen. Das Ergebnis: Eine bessere Anpassbarkeit an Veränderungen – und somit größere Chancen, in einer sich verändernden Welt zu bestehen.
Diese drei Beispiele sollen an dieser Stelle genügen, die Erkenntnis hieraus zu zeigen: Eine hinreichende Vielfalt sorgt für mehr Ausgeglichenheit und Variabilität. Diese sorgt für mehr Widerstandsfähigkeit, die sogenannte Resilienz, gegen Störungen.
Schauen wir uns Europa aus dieser Perspektive an, ergibt sich Folgendes: Egal welche regionalen oder nationalen Fehlentwicklungen, Krisen oder gar Katastrophen es in Europa gab, dank der Vielfalt konnten sie sich nie zu einem europaweiten Flächenbrand ausbreiten, der den gesamten Kontinent und seine Gesellschaften erfasst und ggf. zerstört. So verfügen wir mit unserer wirtschaftlichen und kulturellen Vielfalt über ein wunderbares, ja: großartiges Werkzeug, dass uns deutlich besser gegen schädliche Einflüsse gewappnet sein lässt als es bei einer großen Homogenität der Fall wäre. Und das ist etwas, das uns ein gutes Selbstbewusstsein geben darf für all das, was wir gerade erleben und was an Herausforderungen und Bedrohungen vermutlich noch auf uns zukommen wird.
Der zweite Aspekt der Vielfalt, der zu Europas Stärke beigetragen hat, ist der unserer daraus entstandenen Kompetenz und unseres Wissens.
Auch hier möge ein lebensnahes Beispiel am Anfang stehen: Stellen wir uns zwei Menschen vor, beide je mit einem Werkzeugkoffer. Im ersten Koffer befindet sich schlicht ein Hammer. Der zweite ist voll ausgestattet mit allem, was man brauchen könnte: dem Hammer natürlich, dazu aber verschiedene Zangen, Schraubendreher, eine Säge, Feilen, eine Wasserwaage, eine Mikrometerschraube … Ihr versteht. Schauen wir nun auf die Möglichkeiten, die diese beiden Menschen mit ihrem jeweiligen Koffer bei der Bewältigung von Reparaturaufgaben haben. Im ersten Fall gilt die Aussage des berühmten Psychologen Abraham Maslow: „Wenn das einzige Werkzeug, das Sie haben, ein Hammer ist, neigen Sie dazu, jedes Problem als Nagel zu betrachten.“ Etwas, dass sich im Falle des zweiten Menschen logischerweise ganz anders, nämlich differenzierter, darstellt. Erstens hat er bei der nächsten Herausforderung von vornherein eine größere Auswahl an Werkzeugen, also Lösungsmöglichkeiten. Und zweitens lernt er mit jeder Herausforderung einen immer weiter differenzierten – und somit klügeren – Umgang, sowohl bei dem jeweiligen Werkzeug selbst als auch bei der Auswahl der verschiedenen Werkzeuge.
Europa besitzt in dieser Analogie ganz klar einen reichlich gefüllten Werkzeugkoffer. Dabei haben wir in Europa auch einmal mit Hämmern allein angefangen, zum Beispiel vor zirka 1.000 Jahren. Und uns mit denen gegenseitig die Köpfe eingeschlagen.
Europa hat dies über die Jahrhunderte immer wieder hinreichend geübt, sich gegenseitig zu bekämpfen. Dieser Kontinent hat in seiner jahrhundertelangen Zersplitterung, erst in Form der Fürstentümer etc. und später dann in Form Kaiserreichen u.ä., immer wieder versucht, den Vorteil in der Auseinandersetzung zu finden. Das Ergebnis: immer wieder Kriege, Vernichtung, Leid und Elend.
Aber, und das unterscheidet uns von anderen Regionen der Welt: Wir haben angefangen, uns damit auseinanderzusetzen, unser Verhalten zu reflektieren – und daraus zu lernen! Wir haben irgendwann festgestellt, dass sich zu bekämpfen nicht gerade der beste Weg ist, gut zu leben. Es war der englische Philosoph Thomas Hobbes, der dies 1462 in seinem Werk „De Cive“ („Vom Bürger“) mit den Worten umschrieb: „Homo homini lupus“ – der Mensch ist des Menschen Wolf.
Hieraus hat er sodann die Lehre formuliert, dass es einer Ordnung bedarf, die das Zusammenleben organisiert. Quasi ein Maßband anstatt des Hammers. Hobbes legte damit einen der Grundsteine für eine Entwicklung, die sich über die folgenden Jahrhunderte in Europa verbreitete: Die Auseinandersetzung mit der Frage, wie ein Zusammenleben der Menschen auf geordnete Art und Weise organisiert werden könnte. Die Idee des Staates samt des Rechtes als Ordnungsinstrument nahm Fahrt auf. In England mit John Locke, in Frankreich mit Jean-Jaques Rousseau, in Deutschland mit Immanuel Kant und später Max Weber – bis zu Carl Schmitt, Georg Jellinek und Niklas Luhmann, um nur einige zu nennen.
Beides, die Auseinandersetzungen und die Reflexion darüber, ist Teil unserer Identität. Die sehr klare Lernerfahrung hieraus: Kooperation, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie sind die Garanten für die Abwesenheit von Krieg – und eine großartige Entwicklung in Frieden und Wohlstand. Die Europäische Union ist eine erste Institutionalisierung dafür. Ist sie perfekt? Nein. Diesen Anspruch hatte sie auch nicht. Aber sie ist als Schlussfolgerung aus einem der schlimmsten Kriege entstanden, den die Welt je gesehen hat. Und sie hat überall Frieden und Wohlstand gebracht, wo Länder Teil von ihr geworden sind.
An dieser Stelle sei noch kurz erwähnt, dass die älteste Demokratie der Welt eine europäische ist. Nämlich die von San Marino. Sie geht auf das Jahr 301 zurück. Und nein, das ist kein Schreibfehler: Europa ist mit Abstand der Kontinent mit der längsten demokratischen Tradition.
Kurzum: Aus der Kombination der praktischen Erfahrungen, wie Elend zustande kommt – und der wissenschaftlichen Reflexion darüber, wie es besser geht, haben wir ein Wissen aufgebaut, was seinesgleichen in der Welt sucht. Kein anderer Kontinent verfügt über ein so breites und tiefes Wissen zu der Frage, wie eine Ordnung zu gestalten ist, um ein geordnetes Zusammenleben einer Gesellschaft zu ermöglichen, ja idealerweise zu garantieren. Dies in allen wissenschaftlichen Bereichen – und zwischen ihnen: philosophisch, rechtlich, soziologisch. Keine andere Region der Welt kann uns hier etwas vormachen. Es ist Zeit, dass wir uns dies bewusst machen, was für eine unglaubliche Kompetenz und Expertise wir hier besitzen! Und dies ist vor allem deswegen von größter Bedeutung, da die Welt gerade scheint, den Hammer wieder zum Mittel der Wahl zu erklären. Wir in Europa wissen aus den vorgenannten Gründen, dass dies maximal vorübergehend sein wird, weil es nicht der Weg zu Wohlstand und Zufriedenheit sein wird. Das sollten wir uns immer wieder bewusst machen und hieraus unser Selbstbewusstsein ziehen. Und dabei, und das ist nicht minder wichtig: entsprechend dafür einstehen und unsere Werte gegen die Feinde verteidigen.
"Vielfalt ist das einzig Wahre, das wir alle gemeinsam haben. Feiern Sie sie jeden Tag."
Der nächste Vorteil unserer Vielfalt schliesst direkt an den vorhergegangenen an, und zwar in Form der Kreativität und der Innovation, dies sich aus Vielfalt ergeben.
Als Beispiel vorweg: Stellen wir uns zwei Kisten mit Bausteinen darin vor. In der einen Kiste sind zwei Bausteine, in der anderen 100. Mit welcher Kiste kann man wohl mehr unterschiedliche neue Dinge bauen?
Sowohl die Forschung als auch die Praxis hierzulande sind so überwältigend eindeutig, dass sie nicht ignoriert werden können (gleichwohl aufgrund ihrer Menge hier nur angerissen werden können). Die Psychologie belegt, dass soziale Gebilde (Teams etc.) mit mehr kognitiver Vielfalt besser in der Lage sind, komplexe Probleme zu lösen. Unternehmen, die Vielfalt fördern, sind innovativer, belegt eine Studie von McKinsey. Auf volkswirtschaftlicher Ebene gibt es Forschungen, die belegen, dass vielfältige Ökonomien widerstandsfähiger gegen externe Schocks sind. Auf Bildungsebene führt eine höhere Vielfalt zu einem höheren Bildungsniveau – und damit zu einem höheren Humankapital. Und noch einmal zu Prof. Schreyoegg von der Freie Universität Berlin: Seine Forschungen haben gezeigt, dass Unternehmen, die sogenannte dynamische Kompetenzen entwickeln, wettbewerbsfähiger sind, wobei Vielfalt in den Teams diese dynamischen Kompetenzen fördern kann. Gleiches gilt zudem sowohl für das Management des Wissens in einem Unternehmen als auch beim Management von Unsicherheit in sozialen Gefügen.
Das Bemerkenswerte und Magische hierbei: Eine grundlegende Vielfalt führt zu Offenheit gegenüber dem Anderen. Diese schafft Neues – und erhöht damit wiederum die Vielfalt. Eine sich selbst tragende Aufwärtsspirale (der "circulus virtuosus") aus Vielfalt, Offenheit, Neugier, Kreativität und Innovation ist geschaffen.
Kurzum: Vielfalt hat so viele verschiedene Vorteile auf so unterschiedlichen Ebenen, dass sie nicht nur als wünschenswert bezeichnet werden kann, sondern vielmehr als strategisch notwendig, um im Wettbewerb zu bestehen – oder gar zu führen. Als Kontinent, der für seine Vielfalt berühmt ist, sollten wir uns dies immer wieder vor Augen führen, auf welcher Schatzkiste wir sitzen!
Vor dem Hintergrund all des Vorgenannten können wir für Europa ganz klar feststellen: Mit unserer Vielfalt verfügen wir über ein Vermögen, welches uns in seinem Ausmaß vermutlich nicht bewusst ist – und womit wir eine Kompetenz besitzen, die großartig ist: In Bezug auf Resilienz, auf Wissen, auf Kreativität und ein Innovationspotential.
Es gilt nun, uns dessen vollständig bewusst zu werden und diesen Schatz wieder vollständig zum Leben zu erwecken. Mit ihm besitzen wir etwas Einzigartiges, dass unfassbar viel Erfolgspotential bereithält.
Also: Lernen wir unsere "Werkzeuge" und "Bausteine" kennen, lernen wir uns als Menschen in Europa gegenseitig kennen, um voneinander zu lernen und miteinander Neues zu schaffen! Machen wir uns unsere wertvollen Kompetenzen bewusst – und wenden wir sie an!
Das Allerbeste hierbei: Wenn wir uns einmal zusammengefunden haben und die ersten Früchte des Miteinanders der Vielfalt ernten, wird das ein tolles Gefühl erzeugen – und Lust auf Mehr machen. Also, auf gehts, Europa!